Soziale Distanz braucht kein Mensch. Gerade jetzt!
Haben Sie eine Ahnung, was die Corona-Krise mit uns allen machen wird? Wie unsere Gesellschaft in naher Zukunft aussehen wird? Wird es echte Veränderungen geben? Wird mehr Solidarität spürbar, nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen? Oder werden Distanzierung, Denunziation und Egoismus vorherrschen? Ich wüsste es gern.
Sicher geht es Ihnen auch so: Manchmal fragen Sie sich, ob sich unsere Gesellschaft verändern wird. Manchmal denken Sie vielleicht das Gegenteil. Aber eigentlich haben wir alle keine Ahnung. Den gleichen Eindruck vermittelt mir die Mehrheit der Experten. Sie reden zwar dauernd über die Krise, obwohl sie nach den vielen Wochen des Ausnahmezustands eigentlich nichts Neues mehr zu sagen haben. Für eine weiterreichende Perspektive scheint es noch zu früh zu sein. Corona hat uns alle überrumpelt – wir sind viele Ratlose.
Doch eines haben die meisten in der Zwischenzeit gelernt: Um eine unkontrollierte Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern, müssen wir voneinander Abstand halten. Körperlich. Erste Erfolge dieser Strategie haben sich langsam eingestellt. Deshalb muss klar sein, was mit Abstand halten genau gemeint ist. Social Distancing ist überall zu einem Schlagwort geworden. Dabei trifft der Begriff aber genau das Gegenteil dessen, was jetzt notwendig und sinnvoll ist! Es kann nicht darum gehen, dass Menschen sich sozial und emotional voneinander entfernen. Es geht vielmehr um physische Distanz und deshalb sollten wir von Physical Distancing und nicht von Social Distancing sprechen.
Aus der Katastrophenforschung kennen wir den Begriff der Resilienz. Damit ist die Fähigkeit von Menschen gemeint, mit extremen Ereignissen wie Unfall oder Pandemie erfolgreich fertig zu werden, sie möglichst gut und langfristig unbeschadet zu überstehen. Die Forschung hat eindeutig gezeigt, dass soziale Resilienz immer dann sehr ausgeprägt ist, wenn die betreffenden Gesellschaften über ein großes Maß an Sozialkompetenz verfügen. Damit sind enge soziale Bindungen gemeint. Sozialkompetenz wirkt z. B. in persönlichen Netzwerken, in denen gegenseitiges Vertrauen wächst: Menschen arbeiten zusammen, sind Mitglieder in lokalen Vereinen, unterstützen sich gegenseitig und lernen sich so kennen und schätzen. Sozialkompetenz ist wesentlich für das Funktionieren von Gesellschaften. Das gilt im Normalfall, aber noch viel mehr gilt es in Krisenzeiten.
Die Idee des Social Distancing klingt auf den ersten Blick trivial. Sie zu befolgen, ist jedoch gar nicht so einfach. Es hat sich gezeigt, es gibt Alternativen. Moderne Kommunikationstechnologien bieten vielfältige Möglichkeiten. Einige haben digitale Abendessen mit Freunden oder online ganze Konzerte mit Gleichgesinnten aus der ganzen Welt veranstaltet. Das war auch vor der Krise möglich. Doch es ist nur aktuell sehr viel wichtiger geworden, um sozial und emotional miteinander in Verbindung zu bleiben. Das gilt auch für kreative Ideen außerhalb des digitalen Raums, etwa das gemeinsame Applaudieren oder Musizieren auf dem Balkon, mit dem z. B. den Beschäftigten im Gesundheitswesen gedankt wird. Ermunternd wirken auf den ersten Blick auch Plakate und digitale Posts auf Social Media Plattformen im Sinne von „Zusammen schaffen wir das!“ oder „Mit Solidarität überwinden wir jede Krise!“.
Doch wie ernst sind diese Botschaften wirklich gemeint? Einige Beispiele: Kaum sehen Hotellerie und Gastronomie den ersten Silberstreif am Horizont, ihre Betriebe wieder öffnen zu dürfen, werden Stimmen aus den Kreisen der großen Geschäftsreisekunden laut, die in Rahmenabkommen ursprünglich vereinbarten Zimmerpreise nach unten verhandeln zu wollen. „Tja, die Krise verlangt eben Opfer“. Warenhauskonzerne, Einzelhandelsfilialisten, Hotelbetreiber und Restaurantketten verweigern die pünktliche Zahlung der vereinbarten Mieten, wohl wissend, dass auch ihre Immobilieneigentümer und Vermieter ihre Kredite bedienen müssen. Führungskräfte fordern in der Krise eine Gehaltserhöhung oder die Auszahlung von Boni. Hallo? Solidarität fühlt sich anders an, oder? Partnerschaftliches Geschäftsgebaren? Oder doch lieber „Jeden das Seine und mir das Meiste“. Rette sich wer kann! Wenn’ s um das Überleben geht, ist jeder sich selbst der Nächste.
Nicht, weil ich ein Träumer bin, sondern weil ich wirklich davon überzeugt bin, gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass die Mehrheit in unserer Gesellschaft – im Privaten wie im Business – der anstehenden Krise mit Mut, Engagement und Hilfsbereitschaft der Menschen untereinander begegnet. Diese Beispiele sind ein Signal gelebter Resilienz. Sie hilft der Gesellschaft und jedem Einzelnen dabei, die Corona-Krise mental und psychisch besser zu überstehen. Deshalb ist es unbedingt notwendig, auch weiterhin körperlich Abstand (Physical Distancing) voneinander zu halten – aber umso mehr sozial und emotional eng verbunden zu bleiben.