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Plädoyer für die Arbeit

Die Leistungsgesellschaft verwandelt sich allmählich in eine Freizeitgesellschaft unter Hochspannung. Noch nie arbeitete der Mensch so wenig wie heute. Ist das ein Privileg der Wohlstandsgesellschaft? Oder schon ein Symptom der nächsten Krise?

Wir sollten Bauarbeiter bewundern. Ganz nüchtern und ungetrübt. Man kann kaum an einer Baustelle vorbeigehen, ohne ihnen zuzuschauen. Bei Hitze und Frost sind sie da, manchmal auch nachts. Irgendwie ist es auf Baustellen immer gefährlich. Ehrlich, wenige von uns können mit reinem Gewissen von sich behaupten, sie verdienten ihr Brot – wie ein Bauarbeiter – im Schweiße ihres Angesichts. Bauarbeiter sind für mich die Heroen der Arbeitswelt.

Klagen über Arbeitsbelastung, Stress und Leistungsdruck sind an Orten, wo Handwerk gepaart mit Muskelkraft gefragt ist, am seltensten zu hören. Anders dagegen in klimatisierten Büros, wo man auf bequemen Drehstühlen sitzt und Gerätschaften aller Art die Arbeit erleichtern. Die Arbeitsbelastung nehme zu, heißt es dort, die Anforderungen ebenso. Neben sinnvoller Arbeit steige der Anteil an Bullshit-Tätigkeiten. Außerdem habe sich der Druck erhöht. Er komme natürlich von oben – woher auch sonst.

Gleichgültig, wo – ob in der Hotellerie, Touristik, im öffentlichen Dienst, bei Konzernen oder im privaten Mittelstand – der Tenor ist tendenziell der gleiche: Die Angestellten leiden und murren – auf hohem Niveau. Fühlen den Burn Out kommen, Fluktuation und Krankenstände sind exorbitant hoch.

Niemand bestreitet sicher die Kraft der subjektiven Wahrnehmung. Aber die Statistik spricht gegen die murrenden Zeitgenossen: Noch nie hat der Mensch in unseren Breitengraden im Durchschnitt so wenig gearbeitet wie heute – und zwar gemessen an den täglichen Arbeitsstunden und an der Lebensarbeitszeit. Mehr noch – noch nie standen den Menschen so viele ausgeklügelte Apparaturen, Computer, Maschinen zur Seite, die ihre Arbeit erleichtern – sowohl beim Denken wie auch bei körperlicher Anstrengung. Das Klagen steht also in eklatantem Missverhältnis zu den empirischen Fakten. Auch das prahlerische Getue über den regelmäßigen 10 bis 14 Stunden-Tag mancher Manager entlockt einem höchstens ein müdes Lächeln. Verglichen mit den Arbeitszeiten und körperlichen Belastungen der Arbeiterschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder den Näherinnen, die heute in den Sweat Shops Indiens, Pakistans, Bangladeschs unsere exklusiven Markenhemden zusammennähen, sind sie ein Klacks.

Doch mit gutem Grund lassen Mitarbeiter heutzutage nicht mehr alles mit sich machen. Gesetze regeln Ferien-, Freizeit- und Rentenansprüche. Sie setzen der zeitlichen Belastung Grenzen. Sicherheitsbestimmungen schützen vor allerlei Gefahren für Leib und Leben. Unzumutbare Arbeitsbedingungen sind abgesehen von wenigen Ausnahmen geradezu verboten. Richtig so. Allerdings sind die Grenzen der Zumutbarkeit nicht ein für alle Mal festgeschrieben. Die Tendenz zeigt deutlich in eine Richtung: Die Belastungstoleranz schwindet. Am deutlichsten ist das bei der jüngeren Generation der Arbeitnehmer zu beobachten (Generation Y & Z).

Dazu hat sich inzwischen eine erstaunliche gegenläufige Bewegung eingestellt: Während werktags von neun bis fünf der Zumutbarkeit des Arbeitslebens Grenzen gesetzt sind, findet jenseits davon eine beispiellose Kampfzone statt. Wird die Belastung während der Arbeitszeit von mancherlei Rücksichten reguliert, so kennt sie nach Arbeitsschluss kaum noch Einschränkungen. Die Grenze des Zumutbaren ist hier dehnbar geworden. Es gilt Höchstleistung in der Freizeit zu erbringen.

Sind wir nicht längst aus dem Zeitalter der Leistungsgesellschaft heraus? In der Epoche der Freizeit-Hochleistungsgesellschaft angekommen? Es scheint, kein Arbeitnehmer, wenn er nicht halbwegs von Sinnen ist, würde sich heute bieten lassen, was sich viele von uns nach Arbeitsschluss selbst abverlangen: Nächtliches Dauer-TV-Serien-Gucken, Stadtmarathon, Freeclimbing, Extrem Mountain Biking, Paragliding, Power Partys, Fallschirmspringen, Autorennen, Bergsteigen im Himalaja… Manches dürften sie von Gesetzes wegen im Arbeitsverhältnis gar nicht tun, weil es schlicht weg verboten wäre. Aber in der Freizeit erlauben wir es uns. Awesome People!

Zugegeben: Wir sollten es als ein seltenes Privileg empfinden, dass vielen von uns nach Arbeitsschluss noch ausreichend Energie zu allerlei Tätigkeiten bleibt, bei deren Ausübung wir mitunter Kopf und Kragen riskieren. Denn während unsere Lebenserwartung immer noch steigt, sinkt unsere Arbeitszeit stetig weiter. Die wachsende Differenz will ausgefüllt sein. Aber vielleicht tut es unserer Gesellschaft auf Dauer gar nicht so gut, wenn sie sich zunehmend damit beschäftigt, die Ausdehnung der freien Zeit zu verwalten?

Albrecht v. Bonin
Mitgründer und Gesellschafter der VON BONIN Personalberatung und Inhaber der avb Management Consulting