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Führen ohne Hierarchie

Strenge Regeln, eindimensionale Aufgaben, steile Hierarchien, vertikale Schornsteinkarrieren – das ist das System von gestern. Im schnelllebigen, kreativen, digitalen Arbeitsprozess funktioniert das schon jetzt immer weniger. Denn: Jeder Mensch, allen voran die Generation Y mit ihrem Drang nach Selbstverwirklichung, kann seinen Job nur richtig gut machen, wenn die Bedingungen stimmen. Ohne Hierarchie – geht das überhaupt? Ein Aufruf zum Querdenken.

Die Zeiten, in denen sich Unternehmenslenker in ihren Geschäftsleitungsetagen verschanzen konnten, sind zum Glück längst vorbei. Dafür ist die Innovationsgeschwindigkeit heutzutage viel zu hoch. Sie müssen wissen, was an der Basis, was am Markt, was mit dem eigenen „Produkt“ passiert. Nur dann können sie auf die rasanten Entwicklungen reagieren. Und wer weiß darüber meistens am besten Bescheid? Die eigenen Mitarbeiter.

Weg mit der Hierarchie!?

Wie kann nun hierarchiefreies Arbeiten funktionieren? Meine Antwort: Hierarchiefrei gibt es nicht. Überall wo Menschen aufeinandertreffen, bilden sich automatisch Hierarchien. Das ist normal. Das lehrt uns die Natur. So ist z.B. nicht jeder Mitarbeiter in der Lage, seinen Arbeitstag komplett eigenverantwortlich zu organisieren. Es gibt Kollegen, die das auch gar nicht wollen. Wonach Mitarbeiter dagegen aber dursten, ist Selbstverwirklichung, Mitbestimmung und Kommunikation auf Augenhöhe – unabhängig von der Rolle. Nicht normal ist es, wenn Hierarchien künstlich konstruiert und übergestülpt werden.

Manche Chefs unterliegen früher oder später der Illusion, sie seien die Besten, die Schnellsten und Klügsten. Früher taten Chefs so, als ob nur sie den perfekten Weg kennen. Sie sagten ihren Leuten genau, was zu tun ist. Sie nahmen ihnen das Denken ab, weil es einfacher war, über „klare Ansage“ zu steuern. Das funktioniert heute nicht mehr. Alles wandelt sich. Wer diese Tatsache akzeptiert, kann Veränderungen mitgestalten, statt an ihnen zu verzweifeln. Gute Manager akzeptieren, dass ihre Mitarbeiter Aufgaben anders bearbeiten, als sie selbst – und sie respektieren, dass ihre Leute teilweise über besseres Know-how und Kompetenzen verfügen. Führung brauchen wir aber nach wie vor. Sie wird auch von den meisten Mitarbeitern erwartet und gewünscht. Echte Leader begleiten den Prozess der Umsetzung und greifen nur dann ein, wenn sie merken, dass vereinbarte und wichtige Prinzipien verletzt werden oder das Ziel nicht erreicht wird

Voraussetzung selbstbestimmten Arbeitens ist Vertrauen. Es entsteht, wenn Entscheidungen auf Basis kompatibler Überzeugungen und Regeln getroffen werden. Hier zeigt sich, warum eine sauber definierte Unternehmenskultur und eine hohe Reflektionsbereitschaft des Managements wichtigste Anforderung an moderne Führungsarbeit geworden sind.

Wenn es ein Wort gibt, das wir in deutschen Unternehmen aus den Köpfen bekommen müssen, dann ist es nicht das Wort „Hierarchie“, sondern das Wort „Vorgesetzter“. Dieses Wort zeigt treffend, wie unsinnig übergestülpte hierarchische Strukturen sind. Da heißt es: Uns wird jemand „vorgesetzt“, jemand der uns gegenüber „weisungsbefugt“ ist, dem wir „disziplinarisch untergeben“ sind.

Mal ehrlich: Möchten Sie Vorgesetzte? Nein, Sie wollen echte Anführer. Sie möchten keine Weisungsbefugnis – Sie wollen Entscheidungskompetenz. Sie möchten keine Disziplin – sondern Teamgeist. Wagen wir also das Experiment: Lassen Sie uns die klassischen Hierarchien abschaffen. Okay, bis heute sind Sie noch ein „ganz normales“ Unternehmen: Es gibt z. B. zwei oder drei Geschäftsführer, die jeweils den einzelnen Unternehmensbereichen vorstehen – und „darunter“ die Mitarbeiter.

Das konkrete Problem des alten Modells

Zunehmend ist zu beobachten, dass sich Chefs in schnell wachsenden Unternehmen schwertun, alle Prozesse und Geschehnisse von oben reibungslos zu steuern. Sie müssen immer erst Informationen einholen, um Entscheidungen treffen zu können. Für jedes Projekt werden Expertenteams neu zusammengestellt. Was hat gerade Priorität? Wer braucht Hilfe? Wo muss es jetzt ganz schnell gehen? Es ist ein permanentes Gerangel um Ressourcen. Und dann gibt es da noch die Grabenkämpfe zwischen Abteilung A und B. Aufwand und Kräfteverschleiß sind immens.

  1. Fragen Sie sich, warum die Entscheidungen nicht dort getroffen werden, wo das Know-how ist: in den Abteilungen und Projektgruppen. Es wird Ihnen kein plausibler Grund einfallen. Also strukturieren Sie sich vollkommen neu – indem Sie:
  2. Feste, kundenbezogene Projekt-Teams zusammenstellen, die aus interdisziplinären Experten verschiedener Fachrichtungen bestehen
  3. Innerhalb dieser Teams die Hierarchien abschaffen, oder die Teams entscheiden lassen, wer die Leader-Rolle aufgrund seiner Persönlichkeit wahrnehmen soll, kann und will. Dafür sind klare Spielregeln erforderlich.
  4. Auch Ihre eigene Entscheidungsgewalt einschränken und die Teams in sich autark machen – sprich, ihnen freie Hand lassen. Über Urlaubsplanung, Arbeitsort, die Gestaltung ihrer Arbeitsplätze, Arbeitszeiten, Wunschkunden und ihre Teamziele können sie jetzt selbst entscheiden.

Bloß nicht zurück in die Vergangenheit!

Eins ist klar: Der Weg zum mitarbeiterorganisierten Unternehmen ist kein Zuckerschlecken und bleibt auch auf längere Sicht eine Herausforderung. Wenn Sie z.B. als Geschäftsführer Ihren Mitarbeitern mitteilen, dass sie in Zukunft selbstorganisiert arbeiten und selbst entscheiden dürfen, fallen die Reaktionen erstmal völlig anders aus, als Sie es vielleicht erwarten. Am Anfang verstehen Ihre Leute das System nicht durchgängig und fühlen sich teilweise von der neuen Verantwortung regelrecht erschlagen. Daher sollten Sie am Anfang als Coach jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stehen. Vielleicht holen Sie sich sogar einen externen Coach, um den Teams dabei zu helfen, Prozesse effizient zu gestalten und menschlich zusammenzuwachsen.

Schon nach kurzer Zeit wird es nur noch wenige Kollegen geben, die ihren Freiraum wieder aufgeben möchten. Bei einer internen Mitarbeiterbefragung werden Sie schnell feststellen, dass die überwiegende Mehrheit der Kollegen den Freiraum ihrer Projekt-Teams nicht mehr missen will – und auch nicht daran interessiert ist, jemals wieder für eine klassisch aufgestellte Firma zu arbeiten. Das stärkt die Bindung ans Unternehmen. Darauf dürfen Sie unheimlich stolz sein. Und – das prognostiziere ich Ihnen – auch auf Ihre steigenden Umsatzzahlen, die Zufriedenheit Ihrer Kunden und Mitarbeiter.

Wie geht es weiter?

Sie sind noch längst nicht am Ende Ihrer faszinierenden Reise angekommen. Meine Langfristprognose ist, dass Ihr Betrieb nur noch aus Team-Leads besteht. Also aus Menschen, die sich aktiv einbringen und sich nicht hinter Entscheidungen anderer verstecken, aus Team-Mitgliedern, die eine eigene Meinung vertreten, selbst Ideen entwickeln und den Mut aufbringen, sie auszusprechen. Menschen, die Hammer sein wollen – und nicht Amboss. Die Führungsbeziehung und damit vor allem die Kommunikation wird anspruchsvoller: Nicht mehr von oben herab, sondern partnerschaftlich auf Augenhöhe – das erfordert ein anderes Menschenbild, Teamkonzept und damit veränderte Kommunikations- und Entscheidungsprinzipien.

Sagen Sie selbst: Was könnte daran falsch sein?

Gabriele v. Bonin
Geschäftsführende Gesellschafterin der VON BONIN Personalberatung und langjähriger Management Coach